Mit einem bewegenden Thread hat Twitter-Userin Julia Singlesias für Aufsehen gesorgt. Ihr Sohn hat erst kürzlich die Matura (das österreichische Abitur) mit ausgezeichnetem Erfolg (ein Notenschnitt zwischen 1,0 und 1,5) bestanden. Von einer Schulpsychologin wurde ihm im Vorschulalter hingegen noch ein Intellekt auf Sonderschul-Niveau bescheinigt.
1. In einem bewegenden Thread schildert die Mutter ihre komplette Geschichte.
meinen damals 6-jährigen psychologisch getestet hat, weil er bei der Einschreibung in der Volksschule ein „auffälliges Verhalten“ an den Tag gelegt hatte. (Er sollte bis 10 zählen, war allerdings erst bei 143 zu stoppen, und er intonierte die Zahlen in verschiedenen Tierstimmen)
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Ich fand das witzig und smart, aber die Pädagogen machten ein ernstes Gesicht, und schickten uns zu eben jener Schulpsychologin. Die den Beruf, vermute ich, gewählt hat, weil sie Kinder nicht mochte, dafür mochte sie ihre klinischen Tests umso lieber.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Diese „Feststellung der Schulreife“ zog sich über mehrere Einheiten. Ich begleitete meinen Sohn immer in die Praxis, wartete auf ihn, und dann gingen wir wieder nach Hause. Mein Eindruck war, dass die beiden überhaupt nicht miteinander konnten. Wollte ich mit ihr darüber reden
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
wimmelte sie mich ab: „keine Zeit … das stört den Prozess … warten Sie auf das Ergebnis der Diagnostik … Sie erfahren alles noch früh genug.“ Doch, zwei Kommentare sonderte sie zwischendurch ab: „Der kann ja gar nix“ und „ojeoje, ich seh wirklich schwarz für die Schulreife“
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Dann war endlich das Ergebnis der klinischen Testung da, und, welch Überraschung, es zeigte sich ein äußerst düsteres Bild. Mein Sohn war, las ich, bei allen ausgetesteten Fähigkeiten im untersten Bereich, intellektuell eine Null, unmotiviert, bockig, zappelig, und sozial unreif.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Die Psychologin bedauerte, dass mein Kind nie eine „normale Schule“, so formulierte sie das, besuchen können wird, ich solle ihn am besten gleich in der Sonderschule anmelden. Dann schickte sie uns nach Hause, die Sitzungen waren zu Ende. Was für eine Erleichterung für uns beide.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Tags darauf meldete ich meinen Buben gleich in der Sonderschule an, und … NEIN, natürlich nicht. Weil ich genau merkte, wie unwohl sich das Kind bei dieser Trulla gefühlt hat, und wie nervig es für ihn war, in dieser destruktiven Atmosphäre getestet zu werden, und abgeurteilt.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass mein Sohn jede Menge Fähigkeiten hat. Diese Psychologin jedoch ganz bestimmt eine nicht: das Talent und die Empathie, sich in die Gefühlswelt eines Kindes hinein zu versetzen, und es mit Herz, Hirn und Humor zu fördern und zu begleiten.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Der Rest der Geschichte ist rasch erzählt: von der eigentlich geplanten öffentlichen Volksschule hatten wir die Nase voll. Es wurde dann eine tolle private Einrichtung mit alternativen Lernmethoden, mein Sohn war von Anfang an begeistert, und in seiner Lernlust kaum zu bremsen.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Der Wechsel in eine öffentliche AHS gelang später problemlos, er gehörte immer zu den Besten und Wissbegierigsten in der Klasse, und, für mich das absolut wichtigste: ging gerne zur Schule. Also alles gut! Und doch nicht. Was mich quält: was, wenn ich dem Psycho-Rat gefolgt wäre?
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Viele Eltern hätten sich gedacht: „Na, die Frau Schulpsychologin muss es ja wissen … die hat studiert, die hat erkannt, dass mein Kind strohdumm ist.“ Oder „nicht normal“, „auffällig“, etc. Die hätten vielleicht am Kind, und nicht an den Kompetenzen der Psychologin gezweifelt.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Wie viele Kinder werden wohl am Beginn ihres Lebens mit zweifelhaften Diagnosen abgestempelt? Wie viele Kinder hocken dann, unterfordert, in sonderpädagogischen Einrichtungen? Unglücklich und ohne Selbstbewusstsein. Das ist dann auch mal kaputt. Für Jahre, oder gar für immer.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Das ist Lebensfreude, die im Keim erstickt wird, und Potenzial, das verloren geht. Wer mit diesem Brandzeichen ins Leben startet, ringt möglicherweise ewig mit dem Gefühl, nichts wert zu sein, und am falschen Platz. Dieser Gedanke macht mich traurig, und wütend zugleich.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Darum werde ich heute, einen Tag nach der Maturafeier und 12 Jahre nach der „Diagnose“, das Zeugnis, mit einem kurzen Brief, an eine Adresse senden, die ich gerade gegoogelt habe. Ja, die Psychologin praktiziert noch. Vielleicht gibt es ihr zu denken, vielleicht ist es ihr egal.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
Für mich jedenfalls ist es ein wichtiger Schritt. Auch schlechte Erfahrungen haben aber ihr Gutes: Mich hat dieses Erlebnis darin bestärkt, auf mein Bauchgefühl zu hören, statt auf „Experten“. Und an meine Kinder zu glauben. Immer. Tut das auch, bitte.
Danke fürs Lesen.
— Julia Singlesias (@JuliaSinglesias) 20. Juni 2019
2. Ein Thread, der berührt.
Das ist eine sehr schöne und auch berührende Geschichte, die vielen Schülern und Eltern Hoffnung machen sollte. Und und allen zeigt, dass jeder Mensch ein Individuum ist, das sehr unterschiedlich und persönlich lernt. Alles Gute weiterhin.
— Helmut Brandstätter (@HBrandstaetter) 20. Juni 2019
3. Und es ist nicht die einzige Geschichte dieser Art.
Mein Mann sollte in die Förderschule gesteckt werden, weil er nicht richtig ausschneiden konnte 🤦♀️
Nun, das kann er immernoch nicht richtig. Aber dafür hat er einen handwerklichen Beruf gelernt und arbeitet inzwischen in der IT.Glückwunsch an deinen Sohn ☺️
— Anna (@annaberta1981) 20. Juni 2019
4. Denn so etwas passiert in Deutschland leider häufiger.
So oft habe ich das mitbekommen hier in Deutschland bei Kindern mit Migrationshintergrund. Abgeurteilt auf die Sonderschule, dabei sprechen sie teilweise sehr gut 2-3 Sprachen 😞 die Eltern glauben dann doch oft den Lehrern und sind zu ängstlich.
— Niña (@JalapenoNina) 20. Juni 2019
5. Weshalb es umso wichtiger ist, sich diese Geschichten anzuhören.
Ich könnte heulen, wenn ich sowas lese. Aus Freude für euch, dass es gut ausgegangen ist und für deine Stärke, euren Weg zu gehen und dafür zu kämpfen. Aber auch aus Verzweiflung, wie viel Macht solche Menschen ausüben und wieviel Auswirkung das auf das Leben hat.
Danke!— Milchmädchen (@LiebesLiesche) 20. Juni 2019