Über Geld spricht man nicht. Vor allem, wenn man davon kaum genug zum Leben hat. Denn das Thema Armut ist von großer Scham besetzt. Auf Twitter brechen Menschen nun mit diesem Tabu. Unter dem #IchBinArmutsbetroffen teilen sie ihre ganz persönliche Geschichte und die Umstände, die sie in diese Situation gebracht haben.
Die Situation bringt nicht nur Schamgefühle mit sich, sondern auch Ängste.
#IchBinArmutsbetroffen
Aufgewachsen in Erwerbsarmut. In die Armut gerutscht durch die Krebserkrankung meines Papas. Als ich 9 war, wurde ich Halbwaise + kranke Mama.
Ich habe Angst davor es nicht aus der Armut zu schaffen. Wer arm ist, bleibt arm. Statistisch gesehen.— Sandra (@SandraausHGW) May 12, 2022
Oft wird von schweren Krankheiten erzählt.
Ich bin 38 Jahre alt. Seitdem Tot meiner Eltern leide ich an Depressionen und einer Angststörung. Dazu kommen noch einige andere chronische Krankheiten. Erhalte Grusi. Habe Fachabitur. Und habe es mir leider nicht so ausgesucht wie alles gekommen ist .
— Torsten (@link_torsten) May 12, 2022
Auch viele Alleinerziehende melden sich.
#IchBinArmutsbetroffen, inzwischen seit über 10 Jahren, denn als alleinerziehende und alleinpflegende Mutter eines schwerbehinderten Kindes bleibt nach 140 Stunden +- Pflege/Woche weder Zeit noch Kraft für zusätzliche Erwerbsarbeit.
— friedliche Teeevolution (@trullateee) May 12, 2022
Bevor jetzt x mal „warum nimmst du nicht dies/das in Anspruch?“ kommt: nur weil man Ansprüche auf bestimmte Leistungen hat, sind sie nicht auch realistisch umsetzbar. Das kann viele Gründe haben. Ein Mangel an Personal bei Pflegediensten beispielsweise.
— friedliche Teeevolution (@trullateee) May 12, 2022
Ausgesucht hat sich die Schicksalsschläge natürlich niemand.
Zusehen wie deine Mama irgendwie jeden Monat rüberbringt und auf alles verzichtet, nur damit deine Geschwister und du die Armut so wenig wie möglich zu spüren bekommen. Jahre später macht meine Mama jetzt Armutsbetroffenen Mut. #IchBinArmutsbetroffen
— Dalila (@dalilafyi) May 12, 2022
Vor allem nicht mehrere auf einmal.
Eine von Vielen. Mein Name ist Gabi, ich bin 62 Jahre alt. Ich könnte viel erzählen, aber das würde den Rahmen hier sprengen. Nur soviel: Trotz chronischer Erkrankung habe ich es geschafft, fast 30 Jahre Vollzeit zu arbeiten. Die letzten 18 Jahre sogar
— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
im ÖD und eigentlich unkündbar. Nun, für meinen Arbeitgeber fanden sich Wege, das auszuhebeln. Ich war damals naiv und glaubte an Gerechtigkeit. Das endete mit der Aussage des Richters am Arbeitsgericht „die ist doch sowieso ein Sozialfall“,als es um mein Alter ging.
— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
Ich war 52 und im Jobcenter wurde ich empfangen mit: „Für Sie können wir nur noch Hilfstätigkeiten in der Altenpflege anbieten.“
So endete ich schließlich in der Erwerbsminderungsrente, die ich mit Grundsicherung aufstocken muss, also Regelsatz analog HartzIV.— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
Seitdem sehe ich meinem Leben beim Vorüberziehen zu. Freunde zogen sich zurück, weil ich an vielem nicht mehr teilhaben konnte, ich zog mich zurück, weil ich mich schämte und als Verliererin betrachtete.
Wegen anfänglicher Falschberechnung des Amtes war ich über anderthalb— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
Jahre mit Rückzahlung belastet, lebte also unterhalb des Existenzminimums. Danach fingen Elektrogeräte an, sich zu verabschieden, also wieder wegen Ratenzahlung unterhalb des Existenzminimums.
Es fing gerade an, sich einigermaßen aushalten zu lassen, da kam Corona. Also— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
Extrakosten und nur unzulängliche Hilfen für Bedürftige.
Jetzt Krieg und Energiekrise. Und wieder nur unzulängliche Unterstützung absehbar.Das ist kein Leben, das Spaß macht und schon gar keine soziale Hängematte. Ich würde sofort und gerne wieder arbeiten, wie immer schon.
— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
Leider haben mich die letzten 10 Jahre noch kranker gemacht, was arbeiten komplett ausschließt. Das heißt, ich werde bis zu meinem Ableben in dieser unmenschlichen Situation feststecken. Ich kann absolut nichts daran ändern. Das ist entwürdigend. Und hoffnungslos.
— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
Nun ist es doch etwas länger geworden. Danke für’s Lesen. Und vielleicht überdenken Menschen, die leichtgläubig falschen Narrativen folgen ihr Bild über Armutsbetroffene.
Wir sind Menschen und wir gehören zur Gesellschaft.
— Gabi F. (@freyga5) May 12, 2022
Die Mitlesenden zeigen sich bestürzt.
Was auffällt unter #IchBinArmutsbetroffen, die meisten armen Menschen haben eine Krankheitsgeschichte. In einem Land mit einem eigentlich so guten Gesundheitssystem, sollte Krankheit kein Armutsgrund sein. Ist es aber. Systemfehler.
— Thorsten Wüstenhaus 🇺🇦🇹🇼🇭🇰🏴 (@TWustenhaus) May 12, 2022
Und wütend.
Ich war meine ganze Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenleben #IchBinArmutsbetroffen – es ist pures Glück, dass ich es nicht mehr bin. Und deshalb bilde ich mir auch nicht ein wie manche Schnösel ich wäre irgendwie „fleißiger“ als andere. Trottel.
— Joanalistin (@Joanalistin) May 12, 2022
Sprechen aber auch Mut zu.
Bei den Menschen, die unter #IchBinArmutsbetroffen ihre Geschichte erzählen, fällt auf, wie sehr sie es verinnerlicht haben, sich rechtfertigen zu müssen.
Ein: „dabei habe ich eine Ausbildung, bin nicht faul“, sollte nicht nötig sein.Armut kann alle treffen. Ist keine Schande.
— Kea (@Mister_Brokkoli) May 12, 2022
Eine wichtige Aktion!
2017 hab ich begonnen über meine Armut zu twittern. Zuerst anonym. Aus Scham. Heute trendet dank wundervoller, starker, kämpfender Menschen, die sich diese Beschämung nicht mehr gefallen lassen, #IchBinArmutsbetroffen. Und vielleicht weine ich grad.
— Frau Sonnenschein (@danibrodesser) May 12, 2022
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