Unfallchirurg @RMamarvar rückt zu einem Notarzteinsatz aus. Was er von diesem Notarzteinsatz mitbringt, lässt einen dann doch schwer an unserem Gesundheitssystem zweifeln. Es geht um Zeitdruck, um daraus resultierende Fehldiagnosen und um Patientengefährdungen.
1. Der Zeitdruck im Pflege- und Medizinbereich ist leider hinlänglich bekannt:
https://twitter.com/RMamarvar/status/1218699447636496384?s=20
2. Klingt nach einem ernsten Einsatz:
Ich werde an einem Wochenende zu einem Patienten mit dem Stichwort „Luftnot“ alarmiert. Bei Eintreffen finde ich einen etwa 40-jährigen Mann vor, der stark nach Luft japst. Er ist sehr kachektisch, hat eine aschgraue und schweißige Haut und tiefblaue Lippen.2/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
3. Nichts gefunden, trotz mehrfacher Untersuchung:
Stoßweise japsend und nach Luft ringend entschuldigt er sich für den Notruf und berichtet, daß er wegen der Luftnot bereits bei zahlreichen Spezialisten und Kliniken war. Er habe nichts organisches, die Luftnot sei psychosomatisch bedingt. Alles sei mehrfach untersucht worden.3/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
4. Das klingt alles andere als gut:
Für die nächste Woche habe er bereits einen Termi in einer psychosomatischen Fachklinik, aber er habe es jetzt einfach nicht mehr ausgehalten. Immer, wenn er sich bewege oder aufstehe, bekäme er keine Luft mehr, er schlafe auch bereits seit Wochen im Sitzen auf der Couch.4/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
5. Irgendwas stimmt hier nicht:
Ich lasse ein EKG anlegen und messe Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Das EKG ist unauffällig, die Herzfrequenz ist aber leicht erhöht, der Blutdruck ist etwas niedrig, aber noch normal. Die Sauerstoffsättigung liegt bei etwa 50%. Ich werde stutzig, da passt doch was nicht. 5/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
6. Nur eingebildet? Wohl eher nicht!
Ich lasse ihm hochdosiert Sauerstoff geben, („Nein, das brauch ich nicht Herr Doktor, das ist doch nur eingebildet. Geben Sie mir einfach was zur Beruhigung.“) und fahre mit der Untersuchung fort. Die Lungen sind seitengleich normal belüftet, die Herztöne rhythmisch. 6/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
7. Schade, dass die Fachärzte das bisher nicht entdeckt haben:
Ich zögere, lasse mir den Stapel alter Klinikberichte geben. Reihenweise steht da zu den Aufnahmebefunden „HT rhythmisch, rein“ und in den kardiologischen Befunden „o.p.B.“, „ohne pathologischen Befund“. Aber ich höre ganz eindeutig einen Klappendefekt. Ich, der Unfallchirurg.7/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
8. Und es wird noch schlimmer:
Ein unfassbar deutlich, fast lehrbuchmäßig hörbarer Ton verrät mir, daß der Patient eine Aortenklappenstenose haben muss. Ich unterbreche seine gekeuchten Entschuldigungen und sage: „Sie haben nichts psychosomatisches, Sie haben eine schwere Herzerkrankung.“ 8/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
9. Alles Spezialisten!
Er guckt ungläubig und protestiert. Aber die Kardiologen, die Pulmonologen, die Fachkliniken… Das ruhige Sitzen und der Sauerstoff haben seine Symptome bereits verbessert, ich verabreiche ihm Medikamente und sage, daß er keine Psychosomatik, sondern eine Kardiologie braucht.9/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
10. Glück im Unglück?
Er willigt ungläubig ein. „Wenn sie meinen, Herr Doktor“ Aber er besteht darauf, in die Klinik, in der er bisher immer war gebracht zu werden. Weil ich ihn nicht umstimmen kann, willige ich schließlich ein. Wir befinden Transport und erreichen ohne Probleme das Krankenhaus. 10/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
11. Manchmal sollte man noch einmal genauer nachsehen:
Ich versuche vor Ort zunächst erfolglos den aufnehmenden Arzt zu informieren „Ach, das ist Herr X, den kenne ich schon.“ und bestehe dann darauf, daß ein Oberarzt kommt. Ich beharre darauf, daß beide den Patienten auskultieren und fahre erst, als beide das Geräusch hören.11/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
12. Sollte daran nicht endlich mal etwas geändert werden?
Jeder, der das überforderte System Krankenhaus kennt, weiß genau, wie es zu dem Fehler kam. Im Krankenhaus herrscht ein hoher Zeitdruck, eine unheimliche Arbeitsverdichtung. Jede Möglichkeit zur Zeiteinsparung wird genutzt. Wo lässt sich bequemste Zeit einsparen? 12/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
13. Es geht auf Kosten der Gesundheit!
Richtig, beim Patienten. Kommt ein bekannter Patient zu einem Routineaufenthalt, ist es bequem, alles mögliche aus alten Akten zu übernehmen. Ein einmal falsch erhobener Befund wird so fortgetragen und wirkt sich unter Umständen noch Jahre später aus. 13/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
14. Alles schon länger bekannt:
Das perverse daran ist ja eigentlich, daß der Zeitdruck im Gesundheitswesen uns zwingt, da zu knappsen, wo der geringste Widerstand zu erwarten ist. Der Patient, für den wir alle ja eigentlich alles machen wollen, wird zum Rationalisierungsobjekt. 15/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
15. Das, was Emergency doc sagt!
Macht das nicht, untersucht und befragt jeden Patienten anlassbezogen gründlich und gewissenhaft. Wir sind die einzige Chance auf vernünftige Diagnose und Therapie, die der Patient hat. Und genau dafür sind wir auch in die Medizin gegangen.16/x
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
Ich weiß leider nicht, was aus dem Patienten geworden ist, aber ich stelle mir oft vor, daß den Kardiologen plötzlich alles klar wurde und er inzwischen mit einem Klappenersatz versehen und gesund und glücklich ist. Die andere Alternative würde nämlich bedeuten: Er ist gestorben.
— Emergency doc (@RMamarvar) January 19, 2020
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Danke an Emergency doc für den Thread! ❤️
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